Die heutigen Generationen bauen die Straßen,
auf denen die nächsten fahren:

Über den Lebenslauf und die Zukunft des Alters

Margret M. Baltes*

Freie Universität Berlin

Kofi Annan, der Generalsekretär der UN, sagte in einer Rede, die am 1. Oktober 1998 das Internationale Jahr des alten Menschen einläutete: "Life is becoming less like a short sprint and more like a marathon". Also: Das Leben verändert sich. Aus einem Sprint wird immer mehr eine Langstrecke, ein Marathon.

Mit diesen Worten wollte er nicht nur auf die Verlängerung individueller Lebenszeiten und den daraus resultierenden enormen demographischen Veränderungen in der Weltbevölkerung hinweisen, sondern auch darauf, daß hier eine stille Revolution stattfindet, die große Auswirkungen auf ökonomische, soziale, kulturelle, psychologische und spirituelle Bereiche unseres gesamten Lebens haben wird.

Zur Illustration dieses dramatischen Wandels möchte ich einige Zahlen der statistischen Abteilung der UN hier einfügen, die Sie sicherlich schon hier oder dort gehört haben:

1. Heute ist weltweit eine von zehn Personen 60 Jahre alt und älter. Im nächsten Jahrhundert wird recht bald ein Drittel der Menschheit über 60 Jahre alt sein. Im Jahre 2050 steigt diese Zahl voraussichtlich auf etwa 5 von 10, also die Hälfte.

2. Auch die ältesten der Alten werden älter, das heißt, die Altenpopulation selbst altert. Man lebt länger, wenn man schon alt geworden ist. Momentan machen 80-jährige und ältere 11% der über 60-jährigen aus; im Jahre 2050 werden 27% der 60-jährigen über 80 sein.

3. Mehr Frauen als Männer werden älter. Das Alter ist, zumindest heutzutage, also eher Frauensache als Männersache. 55% der über 60-jährigen sind Frauen, bei den über 80-jährigen sind es 65%, bei den 90-jährigen fast 70%.

Dieses Weltbild einer industrialisierten Gesellschaft spiegelt auch die demographische Situation in Deutschland wider! Kurzum, heute und noch stärker in der Zukunft werden die meisten Menschen in Deutschland das Alter, und viele auch das hohe Alter erleben.

Es gibt aber eine Art Paradox des Lebensverlaufs. Das Leben wird zwar immer länger, aber nicht unbedingt reichhaltiger. Die aktive berufliche Teilnahme beispielsweise wird gerade in einem Wohlfahrtsstaat eher kürzer. Das Eintrittsalter in den Ruhestand hat eine Tendenz zur Verjüngung. Die verbleibende Lebenszeit muß also mit neuem Sinn und neuen Aufgaben gestaltet werden. Diese Tatsachen verlangen, daß wir uns mit den Implikationen dieses demographischen Wandels und des Altwerdens beschäftigen, die unser aller Leben betreffen und mindestens genauso dramatisch wie die oben genannten Zahlen sind.

Ein erstes Beispiel:

Während noch zu Anfang dieses Jahrhunderts der Tod der Arbeit der Menschen ein Ende setzte, ist es heute die Pensionierung. Im Durchschnitt hat eine Person, die mit 60 in den Ruhestand geht, noch rund 20 Lebensjahre zu erwarten. Zwanzig Jahre entsprechen für eine Reihe von uns fast dem ganzen, für viele von uns dem Großteil unseres Arbeitslebens. Zu Bismarcks Zeiten waren 50% der Bevölkerung schon im Alter von 40-45 Jahren verstorben. Es ist interessant zu spekulieren, welches Alter Bismarck wohl heute als Altersgrenze oder Pensionsberechtigung gewählt hätte. Mit Sicherheit nicht 65, wahrscheinlich eher 70 oder älter.

Zwei weitere Beispiele sollen genügen, um die tiefgreifenden Veränderungen der zunehmend länger werdenden Lebenszeit, des damit zusammenhängenden demographischen Wandels in unseren individuellen Leben und die Suche nach neuen, altersfreundlichen Lebenswegen zu verdeutlichen.

Heute kann ein 50-jähriger Mann Vater, Großvater, Kind und Enkel sein. Heute verfügt eine Frau, deren Kinder das Haus verlassen haben, noch über durchschnittlich 30 Jahre eines nachelterlichen Lebensabschnitts.

Diese Lebenszeiten, die Lebenszeiten des dritten und vierten Alters, wollen gestaltet sein, geplant werden, wenn wir der größeren Lebensquantität auch das verleihen wollen, was man als Lebensqualität bezeichnet. Heute konzentriere ich mich vor allem auf die Frage der Gesundheit, körperlicher und geistiger. Denn die Lebensgestaltung sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft hängt entscheidend davon ab, welchen körperlichen und geistigen Gesundheitsstatus und welche möglichen Funktionseinbußen alte Menschen zu erwarten haben.

Ich möchte im folgenden nun drei Fragen stellen und versuchen, diese kurz und vielleicht auch etwas plakativ zu beantworten.

I. Wer sind die heutigen Alten?

II. Was sind die Konsequenzen dieses demographischen und gesellschaftlichen Wandels und seiner Implikationen für den Einzelnen und für die Gesellschaft angesichts der hohen Funktionstüchtigkeit (um dieses häßliche Wort zu benutzen) der jungen Alten?

III. Warum beschäftigen wir uns in den letzten 15-20 Jahren mehr und mehr mit dem Alter und Altern?

  I. Wer sind die heutigen Alten?

Grob gesagt können wir aufgrund wissenschaftlich wohl fundierter Ergebnisse heute unterscheiden zwischen dem dritten und dem vierten Lebensalter, den 65- bis 80-jährigen und den über 80-jährigen. Über das hohe Alter, das vierte Lebensalter, möchte ich heute nicht sprechen. Heute soll das dritte Lebensalter, die neuen oder jungen Alten, im Vordergrund stehen, die Erfolgsstory der gerontologischen Wissenschaften und auch der ökonomischen und sozialen Gesellschaftspolitik und des jüngsten gesellschaftlichen Wandels. Hier gibt es viel Gutes zu berichten.

Zu meinem Ausgangsthema, der körperlichen und geistigen Gesundheitslage: Von vielen Gerontologen wird folgender Befund aus den USA und einigen europäischen Ländern als eine der grundlegendsten Veränderungen des Alters der Gegenwart wahrgenommen:

Zwischen 1982 und 1994 ist die chronische Beeinträchtigung durch Krankheiten, im englischen "disability", im jungen, dem dritten Alter um 63% zurückgegangen. Dieser Befund steht stellvertretend für die vielen Verbesserungen, die sich für die dritte Lebensphase, also das Alter von etwa 65 bis 80, über die letzten 30 Jahre nachweisen lassen.

Nur einige Beispiele: Eine schwedische Längsschnittstudie zeigt, daß 70-jährige heute um eine Größe körperlich gesünder und fitter sind als die 70-jährigen vor drei Jahrzehnten, die etwa fünf Jahren entspricht. Die heutigen 70-jährigen sind also geistig und körperlich genauso gesund, wie die früheren 65-jährigen. Diese körperliche Fitness ist natürlich der Grundstein für viele andere positive Veränderungen.

Nicht nur der körperliche Gesundheitsstatus der heutigen "jungen" Alten ist besser geworden. Dies trifft auch auf das geistige Potential zu. So konnten psychologische Studien die große Lernfähigkeit oder kognitive Plastizität alter Menschen zwischen 65 und 80 Jahren zeigen. Sie belegten außerdem die große psychische Widerstandsfähigkeit alter Menschen. So sind Menschen in ihrem dritten Lebensalter nicht weniger zufrieden als andere Altersgruppen, auch nicht depressiver. Sie fühlen sich im Durchschnitt auch nicht einsamer als andere Altersgruppen, obwohl viele alleine wohnen. Sie sind auch nicht ärmer als jüngere Altersgruppen.

Generell kann man also schlußfolgern, daß der Durchschnitt alter Menschen in den entwickelten Ländern heute über mehr körperliche, ökonomische, geistige und soziale Ressourcen verfügt als je zuvor. Sie zeigen im Durchschnitt eine größere geistige Leistungsfähigkeit, körperliche Fitness, emotionale Widerstandsfähigkeit, soziale Eingebundenheit und nicht zuletzt größere ökonomische Ressourcen. Diese positiven Aussagen gelten vornehmlich für die jungen Alten, das dritte Lebensalter. Was das hohe Alter angeht, so ist die Befundlage weniger optimistisch.

Die positiven Befunde zum dritten Lebensalter bedeuten nicht, daß es in diesem Alter keine biologischen, sozialen und gesellschaftlichen Verlustprozesse gibt. Sie bedeuten aber, daß alte Menschen heute mehr Ressourcen haben, um auch mit diesen Verlusten umzugehen. Alte Menschen, die viele Ressourcen -- kognitive, ökonomische, emotionale, soziale, gesundheitliche -- in das Alter mitbringen, können biologische Verluste, die nun einmal mit dem Alter verbunden sind, besser kompensieren. Damit haben diese Verluste über längere Zeit und für viele keine praktischen oder drastischen Auswirkungen im Alltagsleben.

Ein Beispiel:

Wenn kognitive Leistungsfähigkeit erst unter eine bestimmte Schwelle sinken muß, bevor zum Beispiel eine Alzheimerdiagnose gestellt werden kann, so würde dies bedeuten, daß Menschen mit vielen Ressourcen und damit größeren Kompensationsmöglichkeiten erst später in ihrem Leben diese Schwelle unterschreiten, also anstatt mit 75, beispielsweise erst mit 80 oder 85 Jahren.

Man könnte also sagen, daß das "gesunde" mittlere Erwachsenenalter sich durch die verbesserten Kompensationsmöglichkeiten aufgrund von erhöhten Ressourcen in das junge Alter, das dritte Lebensalter, ausgedehnt hat. Die jungen Alten sind körperlich und geistig den früheren 50- bis 60-jährigen vergleichbar.
 

II. Was sind die Konsequenzen dieses demographischen und gesellschaftlichen Wandels und seiner Implikationen für den Einzelnen und für die Gesellschaft angesichts der hohen Funktionstüchtigkeit der jungen Alten?

Für den Einzelnen:

Ich nutze die eingangs erwähnte Kofi Annansche Metapher aus dem Sport. Wenn für uns das Leben eher zu einem Marathonlauf geworden und nicht mehr ein Sprint ist, so können wir uns vielleicht bei den Marathonläufern abschauen, welches die entscheidenden Voraussetzungen für eine erfolgreiche Lebensplanung sind. Zur Vorbereitung und zum Mitmachen am Marathon gehören mindestens drei Dinge. Das wird Ihnen jeder Marathonläufer, ob jung oder alt, bestätigen: (1) ein gesunder Lebensstil, (2) Training und Übung und (3) Motivation zu Höchstleistungen. Häufig wird von Marathonläufern ein vierter Aspekt noch schnell hinzugefügt: (4) ein Wir-Gefühl.

Diese Aussagen kann man sehr schön mit einem Modell erfolgreichen Alterns verknüpfen, an dem ich als Wissenschaftlerin arbeite, eine Theorie, die wir als "Theorie der Selektiven Optimierung mit Kompensation" bezeichnet haben. Entscheidend sind, wie aus der Bezeichnung ersichtlich, drei Prozesse und deren Zusammenspiel: Selektion, Optimierung und Kompensation. Selektion beschäftigt sich mit Zielen, Optimierung mit den Mitteln, ein Ziel zu erreichen, und Kompensation damit, was man tun muß, wenn bisher wirksame Mittel -- wie etwa das Gehör -- nicht mehr gut funktionieren.

Zunächst zur Selektion: Mein heutiger Fokus ist das Ziel der Gesundheit. Ein gesunder Lebensstil ist hoch mit Gesundheit, Lebenslänge und Lebensqualität assoziiert, wie wir aus der Forschung wissen. Die Ausübung eines gesunden Lebensstils verlangt vom Einzelnen, daß er sich für bestimmte Lebensweisen und gegen andere entscheidet. Denn das Praktizieren eines gesunden Lebensstils ist nicht eine Frage von Training zwei Wochen vor dem Marathonlauf, sondern eine Lebensfrage. Gesundheit ist also nicht nur ein Geschenk des Himmels, welches man passiv erhält. Es ist zu einem wesentlichen Teil das Ergebnis unseren Handelns und der Schaffung gesellschaftlicher Anreize.

Ein Beispiel:

Warum sind Menschen aus weniger privilegierten Sozialschichten weniger gesund? Teilweise, weil es ihnen ökonomisch schlechter geht. Aber auch, weil Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsarmut und Übergewicht weitaus stärker in den unteren sozialen Schichten vorkommen; Rauchen ist dort dreimal häufiger als in den höheren Schichten.

Was das Trainieren und Üben angeht, also die Optimierung, so macht uns der Marathonläufer vor, daß es nur mit Hilfe ausgiebigen und systematischen Übens und Trainierens zu guten Leistungen kommen kann. Je mehr ich mich einsetze, desto besser werde ich sein, zumindest in meiner Altersgruppe. Ich kann also meine ausgewählte Tätigkeit optimieren. Außerdem kann ich mir natürlich auch die Marathonstrecken aussuchen, die ich laufen möchte. Es gibt einfache und schwere Marathonstrecken. Ich kann mir besondere Schuhe auswählen. Ich kann also auch kompensatorisch beim Üben und Trainieren tätig werden.

Von der Gesundheit und dem Marathonlauf zum allgemeinen. Hier liegt ein gesellschaftliches Defizit. Denn altersfreundliche Optimierungs- und Kompensationsstrategien werden dem alten Menschen nach 60 oder 65 im alltäglichen Leben sehr erschwert. So gehen ihm viele Rollen im sozialen und beruflichen Leben verloren, ohne daß neue Angebote, in denen Fähigkeiten geübt und trainiert werden könnten, zur Verfügung stehen, neue Rollen, die auch von der Gesellschaft geschätzt würden. Der älterwerdende Mensch ist also allzu oft darauf angewiesen, sich selbst die Möglichkeiten des Übens und Trainierens, des Optimierens und Kompensierens zu suchen und zu gestalten. Die Gesellschaft bietet weniger Stützen an, als dies auf jüngere Lebensalter zutrifft. In dieser gesellschaftlichen Hinsicht ist das Alter noch jung.

Das gleiche gilt für die Motivation, dabei zu bleiben, das Ziel nicht aufzugeben oder zu verlieren. Das alte Klischee, daß alte Menschen keine Ziele mehr haben, ist ein Vorurteil. Aus der Berliner Altersstudie wissen wir zum Beispiel, daß alte Menschen durchaus Ziele haben, daß sie weder nur in der Vergangenheit noch ausschließlich in der Gegenwart leben. Sie leben auch in der Zukunft, wenn diese auch kurzfristiger gesehen wird. In dieser Studie wurden zehn vorgegebene Ziele von alten Menschen in folgende Rangreihe des eigenen Investments gebracht. Alte Menschen sind am folgenden vor allem interessiert, hier investieren sie sich am meisten:

1. Gesundheit
2. Wohlergehen der Angehörigen
3. Geistige Leistungsfähigkeit
4. Beziehung zu Freunden und Bekannten
5. Nachdenken über das Leben
6. Hobbys
7. Unabhängigkeit
Und erst dann erscheinen in der Rangliste Themen, die man oft in der Öffentlichkeit diskutiert:
8. Sterben und Tod
9. Berufliche oder berufsähnliche Tätigkeit
10. Sexualität
Diesen persönlichen Zielen stehen aber keine positiven Erwartungen der Gesellschaft an den alten Menschen gegenüber. Im Gegenteil, man bekommt gelegentlich beim Lesen der Tagespresse das Gefühl, es wäre der gesellschaftlichen Erwartung am meisten gedient, wenn sich alte Menschen sang- und klanglos mit 70 Jahren verabschiedeten und aus der Öffentlichkeit verschwinden würden.

Als vierten Punkt nannte der Marathonläufer das Wir-Gefühl. Damit ist keine individuelle Leistung, sondern hiermit ist die Wichtigkeit Gleichgesinnter gemeint, aber auch die Wichtigkeit einer Struktur des Marathonlaufs, die dieses Wir-Gefühl aufkommen läßt. Nur wenn es dieses Wir-Gefühl gibt, können sich die entsprechenden Fähigkeiten und Ziele entfalten. Nur wenn es gesellschaftliche Strukturen gibt, können alte Menschen ihre Potentiale nutzen und einsetzen, für eigene Ziele wie auch gemeinschaftliche Ziele. Die kollektive Stimme der Alten und für das Alter ist gefragt und gesucht.

Hiermit kommen wir nun auf die Konsequenzen des demographischen Wandels sowie dem allgemein immer höheren Funktionsstatus der jungen Alten für die Gesellschaft zu sprechen. Was sind einige der Konsequenzen für die Gesellschaft?

Die gesellschaftlichen Konsequenzen möchte ich anlehnend an den UN-Bericht folgendermaßen überschreiben: Langlebigkeit verlangt Investment in alle Phasen des Lebensverlaufs, nicht nur Investment in das Alter selbst. Investment bedeutet hier die Bereitstellung von Möglichkeiten, Strukturen, das Niederreißen von Barrieren, aber auch das Erstellen von neuen Barrieren. Allerdings wird die Gesellschaft vor allem zu Zeiten ökonomischer Knappheit gezwungen, selektiv zu optimieren und zu kompensieren.

Eine neue marathonartige Konzeption des Lebensverlaufs ist gefragt. Lassen Sie mich dies verdeutlichen, genauso wie dies auch im Bericht der UNO dargelegt ist.

1. Wir müssen in die Kindheit investieren, weil sie die Wiege der Langlebigkeit ist. Hier müssen die Weichen gestellt werden für die Menschheitsprinzipien, die die UN deklariert hat: Das Werden der Autonomie, der sozialen Partizipation oder gesellschaftlichen Interdependenz, der Selbsterfüllung, der Würde des Ichs sowie das Gefühl der Sorge und Pflege für die anderen, der tiefe Glaube an kulturelle Toleranz.

2. Es bedarf des Investments in die Jugend, weil sie der Wegbereiter der Langlebigkeit ist. In der Jugend entscheiden sich Fragen des Lebensstils. Ob geraucht wird, ob Sport getrieben wird, kurzum ob die körperliche aber auch die geistige und emotionale Fitness Beachtung finden und als Werte angesehen und angestrebt werden. Gesundheitswissen ist ein immer wesentlicherer Teil des Bildungswissens.

3. Wir müssen auch in das junge Erwachsenenalter investieren, eine Lebensphase, in der das psychische Kapital von Fertigkeiten und Wissen, sowie das soziale Kapital der Kollaboration und Solidarität ausgebaut werden muß. Wenn wir sicherstellen müssen, daß das erworbene körperliche und geistige Potential in ökonomische Produktivität umgesetzt werden kann.

4. Wir sollten in das mittlere Erwachsenenalter investieren, in dem dieses Kapital generativ weitergegeben wird: (a) an die jüngere Generation (durch Mentorenrollen und ähnliches mehr) und (b) versorgend an die älteste Generation. Das mittlere Erwachsenenalter wirkt mehr als alle anderen nach oben und nach unten. Im Lebensverlauf ist es die Scharnierstelle wohl funktionierender Solidarität.

5. Schließlich benötigen wir Investment in das Alter, in dem das noch vorhandene Kapital sowohl der Gesellschaft als auch des Individuums der Selbstentwicklung und Selbstverwirklichung, der Ich-Integrität, dienlich gemacht werden sollte. Genau hier haben wir die alten Menschen bisher im Stich gelassen, ihnen wenige Strukturen für Zielbildung und Zielerreichung an die Hand gegeben. Es kann dabei nicht in erster Linie darum gehen, bestehende Strukturen, also Ausbildungsstätten für die Kinder und Jugendlichen, Arbeitswelt, Familie und Partnerschaft für die Erwachsenen, als Strukturen auf alle Altersgruppen zu verteilen. Weder eine 70-jährige Frau noch ein 7-jähriges Kind können eine Familie gründen. Den Marathon des Lebens im Alter einfach so weiterzulaufen wie er begonnen hat, wäre ein Stillstand. Der Bewegungsablauf des Lebensverlaufs benötigt im Alter auch andere Schritte.

Ich denke, wir müssen kreativer sein und auch neue persönliche und gesellschaftliche Strukturen finden, die dem Alter einen neuen Lebenssinn und Lebensstandort geben. Vielleicht hilft es, darüber nachzudenken, welche Ziele und Aufgaben dem Alter vorbehalten sein sollten und wo alte Menschen für die Gesellschaft kompensatorisch und optimierend tätig werden können. Die Lösung kann nicht nur darin bestehen, das Alter als das Fortschreiten des Erwachsenenalters zu beschreiben. Das Alter ist Kontinuität und Wandel zugleich.

Vor ein paar Wochen fand ich in der wohl wichtigsten amerikanischen Tageszeitung, der New York Times, zwei ganze Seiten über "The New Faces of Retirement", also die neuen Gesichter der Pensionierung und des dritten Lebensalters. Dieser Bericht beschrieb für das Alter die aus der Forschung bekannte neue emanzipatorische Synergie zwischen den Zielen des Einzelnen und den Strukturen der Gesellschaft. Es gibt Bewegung in der Gesellschaft, was das Altern angeht!

Sechs Menschen über 65 Jahren aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten und Berufen kommentierten ihre Vorstellungen und Verwirklichungen eines aktiven Ruhestandes. Alle hatten sie sich entschieden, nach dem 60. Lebensjahr weiterzuarbeiten, einige direkt in ihrem Berufszweig, andere in leicht abweichenden Berufszweigen, andere in einem eher neuen Berufskontext, aber alle arbeiteten sie an etwas und für etwas. Man könnte die Veränderung, die sie im Arbeitsleben vorgenommen haben, einfach so beschreiben: sie haben ihre Arbeitszeiten individualisiert, was fast immer einer Kürzung gleichkam. Sie haben dies getan, weil sie Prioritäten gesetzt, also Selektion betrieben haben; das heißt, sie wollen auch noch andere als berufliche und materielle Ziele in ihrem Leben verfolgen. Solche Ziele waren ihnen zwar nicht unwichtig, aber doch weniger wichtig geworden. Gleichzeitig nahmen sie Verluste zum Beispiel im monetären Bereich in Kauf. An dieser Stelle konvergieren die Ziele alter Menschen in ihrer dritten Lebensphase und eine gesellschaftliche Strukturveränderung der Gegenwart, nämlich die Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Sicherlich ist die Innovationskraft für neue Formen des Alters in den USA gegenwärtig auch deshalb so groß, weil es der Wirtschaft dort so gut geht. Es gibt praktisch keine Arbeitslose. Auch die Alten werden daher gebraucht, und sie nutzen dies mit Verve und persönlicher Kreativität.

Doch ist die aus der Wirtschaftslage entstehende Innovationskraft nicht der alleinige Faktor. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Möglichkeiten, Neues zu gestalten. Immer ist dabei wichtig, daß Innovation und gesellschaftliche Strukturveränderungen nicht eine Einbahnstraße sind. Sie müssen beispielsweise, was das Verhältnis Staat-Individuum angeht, wechselseitig sein, daß heißt, sowohl "top-down" als auch "bottom-up" verlaufen. Top-down, indem die Politik bestimmte Programme oder Gesetze einführt. Dies wird aber nicht ausreichen oder auch nicht schnell genug gehen. Man weiß, daß auf gesellschaftspolitischer Ebene alte Strukturen nur dann abgebaut werden, wenn sie kostspieliger als die Veränderungen selbst werden.

In solchen historischen Scharniersituationen sind Bottom-up-Prozesse von herausragender Bedeutung. Sie sind im Vergleich näher am Individuum und können daher schneller und unbürokratischer Ergebnisse produzieren. Sie können auf unterschiedlicher Ebene angesiedelt sein, auf der Verbandsebene, der kommunalen Ebene, der Ebene der Selbsthilfegruppen, der Lebensgestaltung des Einzelnen. In der Tat, genau wie dies auf die biologische Evolution zutraf, bei der das adaptive Verhalten des Einzelnen in einer sich verändernden Umwelt den Fortschritt ermöglichte, so glaube ich, daß ein wesentlicher Teil der Innovationskraft für das Alter im Alltagsleben des Einzelnen stattfindet. Die Politik muß diese Innovationen erkennen und stützen.
 

III. Warum beschäftigen wir uns in den letzten 15-20 Jahren mehr und mehr mit dem Alter und Altern?

Meine letzte Frage scheint vielleicht überflüssig. Dennoch sollten wir sie uns kurz näher vor Augen führen. Es wird, so hoffe ich, recht einsichtig aus meinen Ausführungen, daß wir uns damit beschäftigen, weil uns der mit der Lebenszeitverlängerung einhergehende demographische Wandel dazu zwingt; er zwingt uns als Gesellschaft, weil die bisherigen Strukturen diesem Wandel und vor allem dem neuen Funktionsstatus der jungen Alten nicht mehr gerecht werden. Er zwingt jeden Einzelnen von uns, weil wir in diesem Jahrhundert erstmals in der Menschheitsgeschichte imstande sind, unser Leben für das Alter und im Alter zu planen und proaktiv zu leben.

Das heißt, wir beschäftigen uns in der Gesellschaft immer mehr mit dem Alter und Altern, weil es ein neues Phänomen ist, das in dieser Größenordnung in unserem Jahrhundert entstanden ist. Alt zu werden ist fast zu einem Allgemeingut geworden. Dies ist eine radikal neue Lebenswelt. Von daher brauchen wir auch nicht defensiv zu werden, wenn wir noch keine Lösungen parat haben. Aber es ist natürlich keine Entschuldigung dafür, nicht heute und jetzt anzufangen, nach produktiven Lösungen zu suchen. Es sollte uns allerdings auch bewußt werden, daß diese neue Situation mit ihren neuen Anforderungen Angst erzeugt.

Wir beschäftigen uns aber auch mit dem Alter, weil wir das Altern meistern wollen, weil wir besser altern wollen als unsere Eltern, vielleicht sogar, weil wir hoffen, das Altern besiegen zu können. So ist unsere Beschäftigung mit dem Alter auch durch das Gefühl der Hoffnung motiviert.

Dieses dynamische Zusammenspiel der Hoffnung auf eine gute Zukunft und der Angst gegenüber dem Alter ist, so glaube ich, kennzeichnend für unsere Gesellschaft und jeden Einzelnen von uns. Angst, weil wir bisher keine Zeit hatten, die Langlebigkeit in unser individuelles und gesellschaftliches Konzept des Lebens einzubauen. Hoffnung, weil wir erkennen, wie sehr sich das Aussehen des Alterns geändert hat, wie sehr wir immer mehr in der Lage sind, das Haus des Lebens zu vervollständigen, ihm ein Dach des hohen Alters zu geben, das als Gipfel des Lebens anzusehen und aufzusetzen sich lohnt. Während wir nämlich in den 70er Jahren nur die Probleme des Alters sahen, die zunehmende Hinfälligkeit und nachlassende Gesundheit, die Armut und Zwecklosigkeit, kam es in den 80er Jahren zu einem euphorischen Interventionismus. Nicht zuletzt durch die Forschung angespornt konnten wir zeigen, wieviel Potential vorhanden war, wenn denn die Möglichkeiten des Auslebens dieser Potentiale gegeben und gefördert wurden.

Die Langlebigkeit und die damit verbundenen sozialen, ökonomischen, psychischen und spirituellen Implikationen sind also zu einem Zentralthema der Politik und der Forschungspolitik geworden. Sie gehen jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft und die Gesellschaft selbst an. Die internationale Auseinandersetzung mit diesem Thema wird vielleicht auch hier in Deutschland die Diskussionen beflügeln und vielleicht auch, so hoffe ich, etwas verändern. Verändern dahingehend, daß nicht Verteilungskämpfe beschworen, belächelt oder angedroht werden, sondern daß man gemeinsam, alle Altersgruppen zusammen, solidarisch nach Lösungen sucht. Die heutigen Alten waren schließlich die gestrig Jungen, und die heute Jungen werden schließlich die morgigen Alten sein. Ihnen, den künftigen Alten, den Endlauf in einer Weise zu ermöglichen, daß er sinnstiftend und würdevoll erscheint, kann am besten dadurch vorbereitet werden, daß die heutigen Alten die Wege finden. Ein chinesisches Sprichwort bringt diese Perspektive auf den Punkt: "Die heutigen Generationen bauen die Straßen, auf denen die nächsten fahren".

Ich schließe mit diesen doch eher von Zukunftsoptimismus getragenen Worten, trotz der Tatsache, daß das dritte Alter den Marathon des Lebens noch nicht zu Ende führt. Im hohen Alter ist die Unvollendetheit des Lebens am deutlichsten zu sehen, hier bedarf es mehr und mehr Anstrengungen der Wissenschaft, und in diesem Sinne ist es auch wichtig, daß die Europäische Kommission Forschungen zum Alter zu einer hohen Priorität erklärt hat. Ich selbst habe mich dabei jüngst sehr engagiert und hege die Hoffnung, daß unsere Gesellschaft die Vorteile guter Alternsforschung im Interesse aller erkennt.

Frau Ministerin Bergmann: Ich wünsche Ihnen bei Ihrer für uns alle so wichtigen Arbeit viel Erfolg!
 



* Frau Professor Baltes ist wenige Tage vor der endgültigen Fertigstellung dieser Festrede verstorben. Die Rede wurde am 4. Februar 1999 in Bonn anläßlich der von Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, geleiteten SPD-Veranstaltung "Leitbilder für das 21. Jahrhundert: Die neue Rolle des aktiven Alters" von Frau Dr. Susanne Zank, einer der langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen von Frau Prof. Baltes, verlesen.
 
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