Zeitschrift für
Gerontologie und Geriatrie |
Band 32, Heft 2, April 1999 |
Margret Maria Baltes geb. Labouvie wurde am 8. März 1939 in Dillingen (Saar) geboren. Sie studierte Psychologie an der Universität Saarbrücken, wo Ernst Boesch ihr akademischer Lehrer war. Das Studium schloß sie 1963 mit dem Diplom ab. Bald nach dem Abschluß des Studiums und der Tätigkeit in einer Erziehungsberatungsstelle machte sie einen für ihre Biographie entscheidenden Schritt: Sie wechselte Land und Kontinent und nahm an der West Virginia University das Ph.D.-Studium der experimentellen Psychologie auf, unter anderem bei John Nesselroade und Hayne W. Reese. 1973 promovierte sie im Fach "experimental psychology" mit einer lerntheoretischen Arbeit zu "non-littering behavior" bei Kindern. Die folgenden Jahre verbrachte sie an der Pennsylvania State University, zunächst als Assistant Professor, dann als Associate Professor. Im Jahr 1980 ging Margret Baltes (gemeinsam mit ihrem Mann Paul Baltes) nach Berlin. Unter ihrer Leitung wurde im Rahmen der Abteilung für Gerontopsychiatrie der Freien Universität Berlin die zunächst kleine, dann aber rasch wachsende "Forschungsgruppe Psychologische Gerontologie" aufgebaut. Seit 1984 war Frau Baltes Professorin für Psychologische Gerontologie am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Daneben war sie auch Honorarprofessorin der Psychologie an der Universität Trier. Häufig wurde sie als Gastwissenschaftlerin an exzellente Forschungszentren eingeladen: Allein an der Stanford University in Kalifornien verbrachte sie in den neunziger Jahren drei produktive Forschungsaufenthalte.
Margret Baltes hat durch ihre Forschungsarbeiten die Gerontologie in mehrfacher Hinsicht nachhaltig bereichert. Zu nennen sind an erster Stelle ihre seit etwa Mitte der 70er Jahre vorgelegten lerntheoretisch und beobachtungsmethodologisch inspirierten Arbeiten zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Modifikation von unselbständigem Verhalten alter Menschen und der empirischen Herausarbeitung der Schlüsselrolle, die dabei der sozialen Umwelt zukommt. Das von ihr identifizierte "Unselbständigkeits-Unterstützungsmuster" der sozialen Umwelt im Umgang mit alten Menschen zählt heute zu den "klassischen" Ergebnissen der psychologischen Gerontologie überhaupt. Der "Impact" dieser Arbeiten ist mindestens in dreierlei Hinsicht zu sehen: Erstens stellte sie mit als einer der ersten die heuristische Fruchtbarkeit des verhaltenstheoretischen Paradigmas in der Gerontologie, konkret in seiner Anwendung auf Interaktionen zwischen alten Menschen in Heimen, aber auch in Privathaushalten unter Beweis. Dies wiederum förderte die für die heutige Gerontologie so wichtige Sichtweise, Altern weniger als unbeeinflußbaren Verlust, sondern auch als durch soziale, räumliche und gesellschaftliche Bedingungen mitgesteuert und damit als gestaltbar zu betrachten. Zum zweiten gab die von ihr eingesetzte, sehr aufwendige Beobachtungsmethodologie, die den großen Vorzug der Datenerhebung in natürlichen Settings hatte, der Methodendiskussion in der Gerontologie wichtige Impulse. Zum dritten hat sie mit diesen Arbeiten in seltener Stringenz Ergebnisse der Grundlagenforschung mit der Interventionsforschung verbinden können. Die gerade auch in ihren Arbeiten zum Ausdruck kommende hohe Plastizität des Verhaltens im Alter mündete in konkrete Trainingsprogramme zur Verbesserung der Kompetenzen von Professionellen in der Pflege und damit zur Förderung von Selbständigkeit im Alter.
Nicht zuletzt auch aus der intensiven Nutzung der alltagsnahen Methode der Verhaltensbeobachtung erwuchs etwa seit Mitte der 80er Jahre das Interesse von Margret Baltes an der Beschäftigung mit dem Bereich der Alltagskompetenz im Alter. Sie entwickelte ein Meßverfahren zur Erfassung des Alltagsverhaltens, um auf diese Weise die Alltagskompetenz älterer Menschen über das Verhalten in alltäglichen Situationen beschreiben und theoretisch analysieren zu können. Ergebnis dieser Forschungsarbeiten, die vor allem im Kontext der Berliner Altersstudie durchgeführt wurden, war auch ein interdisziplinär angelegtes Modell zur Alltagskompetenz, in dem eine Unterscheidung zwischen basalen Fertigkeiten und interessengeleiteten, stärker optionalen "erweiterten" Alltagskompetenzen getroffen und Prädiktoren für interindividuelle Unterschiede in der Alltagskompetenz identifiziert wurden. Mit diesen Arbeiten hat Frau Baltes die Berliner Altersstudie in entscheidender Weise mitgeprägt und die Diskussion um das Konzept der Alltagskompetenz, die gerade in den letzten Jahren in der Gerontologie verstärkt geführt wurde, konzeptuell und empirisch in substantieller Weise stimuliert.
Ein weiteres großes Forschungsgebiet von Margret Baltes stellte die Frage der kognitiven Plastizität im Alter dar, und zwar unter besonderer Berücksichtigung dementieller Prozesse im Alter. Die Frage, der Margret Baltes hierbei nachging, bezog sich auf die Vermutung reduzierter kognitiver Plastizität bei beginnender Demenz. Mit Hilfe des "Grenztestens" (testing-the-limits) lieferte sie diagnostische Beiträge zur Früherkennung von Demenz und zeigte damit die Bedeutung psychologischer Methoden für die Demenzforschung auf.
Das theoretische Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation wurde von Margret und Paul Baltes etwa ab Ende der 80er Jahre entwickelt, um den häufig nur schlagwortartig verwendeten Begriff des "erfolgreichen Alterns" genauer zu fassen und der empirischen Forschung zugänglich zu machen. Angesichts begrenzter Ressourcen, Handlungsziele auszuwählen (Selektion), Fähigkeiten und Kompetenzen zu erwerben, um diese Ziele zu erreichen (Optimierung) und verlorengegangene Kompetenzen zu ersetzen (Kompensation) -- all dies sind Entwicklungsprozesse, die gerade im Verlauf des Alterns von größter Bedeutung sind. Die überzeugende Anlage dieses als Meta-Modell gedachten Ansatzes zeigte sich in der intensiven Rezeption, die es in den letzten Jahren in der internationalen gerontologischen Forschungsgemeinde erfahren hat. Margret Baltes war darum bemüht, die Grundlinien des Modells ständig konzeptuell weiterzuentwickeln, etwa durch Verknüpfungen mit Theorien zu sozialen Beziehungen, aber auch die empirische Prüfung fand in einem großangelegten DFG-Forschungsprojekt ihren Niederschlag. In diesem Kontext entwickelte sie in Zusammenarbeit mit Laura Carstensen den Begriff der "kollektiven selektiven Optimierung mit Kompensation."
In engagierten und dezidierten Stellungnahmen hat Frau Baltes schließlich auch für die in einer politischen Perspektive wichtige Sichtweise der "Produktivität eines neuen Alters" plädiert und dabei auch die Defizite einer zu einseitig männlichen Ausrichtung der gesellschaftspolitischen Diskussion angeprangert.
Margret Baltes war eine außerordentlich produktive Forscherin, die in Kooperation mit vielen Kolleginnen und Kollegen zahlreiche und umfangreiche Drittmittelprojekte einwarb und durchführte. Sie veröffentlichte sieben Bücher und mehr als 100 Buchkapitel und Zeitschriftenartikel, die zu einem großen Teil in den besten internationalen gerontologischen Fachzeitschriften mit "Peer review"-System erschienen. Dabei wurde jedem, der mit Margret Baltes zusammengearbeitet hat, deutlich, mit welcher Gründlichkeit und Professionalität sie Manuskripte behandelte, an denen sie arbeitete. Mehrfache Fassungen und grundlegende Bearbeitungen eines Papiers auch im fortgeschrittenen Produktionsprozeß zeigten ihren überaus hohen Anspruch an die Qualität der eigenen Arbeit. Es verwundert deshalb auch nicht, daß Margret Baltes zu den wenigen deutschen Forscherpersönlichkeiten im Bereich der Gerontologie zählte, deren Arbeiten international nicht nur intensiv rezipiert wurden, sondern selbst auch aktiv die internationale Forschung vorantrieben.
Lehre ist für produktive Forscher häufig genug nur eine akademische Pflicht, der zu genügen ist. Nicht so bei Frau Baltes: Lehrveranstaltungen wurden von ihr mit großer Sorgfalt vorbereitet, Diplomarbeiten und Dissertationen außerordentlich eingehend betreut. Margret Baltes war eine bei Studierenden sehr beliebte akademische Lehrerin, deren Veranstaltungen Studierende auch ohne den Druck von Studienverpflichtungen besuchten. Das DFG-Graduiertenkolleg "Psychologisch-medizinische Gerontologie: Psychologische Potentiale und ihre Grenzen im Alter", an dessen Initiierung, Vorbereitung und Ausgestaltung Frau Baltes 1998 maßgeblichen Anteil hatte, wäre ein weiteres Forum zur Förderung junger Forscherinnen und Forscher gewesen, das sie mit Sicherheit mehr als engagiert genutzt hätte. Die Verleihung des "Distinguished Mentorship Award" der Gerontological Society of America im Jahre 1994 an Margret Baltes, nur eine ihrer zahlreichen Ehrungen, spricht wohl für sich.
Margret Baltes war Mitglied in zahlreichen Komitees und Organisationen. Und diese Mitgliedschaften waren "aktive": Margret Baltes prägte die Arbeitsergebnisse stets durch ihren Einsatz und die selbstverständliche Überzeugungskraft ihrer Argumente mit. Von 1986-1988 leitete sie den Fachbereich für sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie der deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Sie gehörte zum Beirat einer Reihe von Fachzeitschriften, sie vertrat die Gerontologie in den Beiräten von Stiftungen und war Mitglied in hochrangigen Kommissionen, zuletzt in der Sachverständigenkommission zur Erstellung des dritten Altenberichts der Bundesregierung sowie als Vorsitzende der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zur Ausgestaltung der gerontologiebezogenen Forschungsprioritäten innerhalb des jüngsten Rahmenprogramms der europäischen Forschungsförderung.
Margret Baltes ist am 28. Januar 1999 kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag
plötzlich und unerwartet an Herzversagen gestorben. Die deutsche Gerontologie
hat eine ihrer wichtigsten Vertreterinnen verloren. Wir trauern um die
verehrte Lehrerin, Kollegin und Freundin.